Liebe Leserin,
lieber Leser,
liebe Mandantin und lieber Mandant,
auch im März wurden einige wichtige und interessante Gerichtsentscheidungen veröffentlicht. Anbei eine Auswahl der wichtigsten Entscheidungen. Für Rückfragen stehe ich selbstverständlich jederzeit gerne zur Verfügung.
Gliederung
§ 1 Arbeitsrecht
1. Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen,
BAG Urt. v. 18.09.2024 – 5 AZR 29/24
2. Entschädigungsanspruch wegen Geschlechterdiskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG – Einwand des Rechtsmissbrauchs,
BAG, Urt. v. 19.09.2024 – 8 AZR 21/24
3. Kündigungsfrist bei Kündigung des Dienstvertrages des Geschäftsführers einer GmbH,
BGH, Urt. v. 05.11.2024 – II ZR 35/23
4. Kein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften zu Werbezwecken zum Betrieb,
BAG, Urt. v. 28.01.2025 – 1 AZR 33/24
§ 2 Verkehrsrecht / Versicherungsrecht
1. Mietwagenkosten für Fahrzeuge mit abgelaufenem TÜV,
BGH, Urt. v. 03.12.2024 – VI ZR 117/24
2. Zur richterlichen Überzeugungsbildung für den Nachweis eines unfallursächlichen Geschwindigkeitsverstoßes bei einem Unfall mit Personenschaden,
OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.12.2024 – 3 U 36/23
3. Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit – Fahrverbot,
AG Landstuhl, Urt. v. 09.02.2024 – 3 OWi 4211 Js 11910/23
4. E-Scooter: Entziehung der Fahrerlaubnis,
OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2025 – III-1 ORs 70/24
5. Straßenkleber: Straßenblockaden – Strafbarkeit wegen Nötigung,
OLG Karlsruhe, Urt. v. 04.02.2025 – 2 ORs 350 SRs 613/24
6. Verkehrssicherungspflicht beim Gehweg,
LG Lübeck, Urt. v. 06.09.2024 – 10 O 240/23
§ 3 Notariat
1. Uneingeschränkte Grundbuchfähigkeit des Vereins ohne Rechtspersönlichkeit,
OLG Frankfurt a. M., Beschl. V. 10.10.2024 – 20 W 186/24
2. Nachweis der Erbfolge bei notariellem gemeinschaftlichen Testament mit Pflichtteilsstrafklausel,
OLG Frankfurt a. M., Beschl. V. 12.09.2024 – 20 W 212/23
3. Keine Nichtigkeit der Abberufung des GmbH-Geschäftsführers durch unzuständiges Organ,
BGH, Urt. v. 16.07.2024 – II ZR 71/23
§ 1 Arbeitsrecht
1. Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen,
BAG Urt. v. 18.09.2024 – 5 AZR 29/24
Wenn ein Mitarbeiter arbeitsunfähig krank ist, bekommt er nach den Entgeltfortzahlungsgesetz für die Dauer von sechs Wochen eine Entgeltfortzahlung. Die Arbeitsunfähigkeit wird dabei vermutet, wenn seitens eines Arztes eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegt. Der Einwand des Arbeitgebers, der Mitarbeiter sei gar nicht krank, reicht nicht aus. Er muss vielmehr Tatsachen darlegen, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern. Dann muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit darlegen und beweisen. Nunmehr hat das Bundesarbeitsgericht einen weiteren Fall genannt, in dem der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist:
Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die nach Ausspruch einer Kündigung des Arbeitnehmers ausgestellt worden sind, kann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach Ausspruch der Kündigung erkrankt und nach den Gesamtumständen des zu würdigenden Einzelfalls Indizien vorliegen, die Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen. Solche Zweifel können bestehen, wenn eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken.
Ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können auch dann bestehen, wenn bei einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers die Bescheinigung zeitlich erst nach Zugang der Kündigung – etwa am nächsten Arbeitstag – dem Arbeitgeber vorgelegt wird.
2. Entschädigungsanspruch wegen Geschlechterdiskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG – Einwand des Rechtsmissbrauchs,
BAG, Urt. v. 19.09.2024 – 8 AZR 21/24
Eine Bürostelle wurde seitens eines Arbeitgebers auf der Webseite von „Indeed“ mit „Bürokauffrau/Sekretärin“ ausgeschrieben. Daraufhin bewarb sich ein ausgebildeter Industriekaufmann und Wirtschaftsrechtsstudent auf diese Stelle und bekam diese nicht. Der Bewerber hatte sich bereits in anderen Ländern mehrfach auf Stellen, die als „Sekretärin“ ausgeschrieben waren, beworben und hatte auch dort diese Stellen nicht bekommen. Daraufhin erhob er innerhalb eines Zeitraums von 15 Monaten allein beim Arbeitsgericht Berlin 15 Klagen auf Entschädigung wegen Geschlechterdiskriminierung. Im vorliegenden Fall musste sich das Landesarbeitsgericht Hamm mit dem Fall auseinandersetzen und entschied, dass vorliegend aufgrund der Gesamtumstände davon auszugehen sei, dass es dem Kläger gar nicht darum ging die Stelle zu bekommen, sondern um Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Aus den Gesamtumständen ging das Gericht daher von einem Rechtsmissbrauch aus und verneinte Entschädigungsansprüche. Hiergegen legte der Kläger Revision ein. Das Bundesarbeitsgericht sah hierin ebenfalls einen Rechtsmissbrauch und führte insoweit wie folgt aus:
Das Verlangen eines erfolglosen Bewerbers auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG kann dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand (§ 242 BGB) ausgesetzt sein. Rechtsmissbrauch ist anzunehmen, wenn sich aufgrund einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der Bewerber sich nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihm darum ging, nur den formalen Status als Bewerber im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, Ansprüche auf Entschädigung geltend machen zu können.
Der Begriff der unzulässigen Rechtsausübung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Würdigung des LAG ist deshalb in der Revisionsinstanz nur darauf überprüfbar, ob es den Rechtsbegriff selbst verkannt, gegen Denkgesetze, anerkannte Auslegungsgrundsätze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände außer Acht gelassen hat.
3. Kündigungsfrist bei Kündigung des Dienstvertrages des Geschäftsführers einer GmbH,
BGH, Urt. v. 05.11.2024 – II ZR 35/23
Der Bundesgerichtshof entschied nunmehr, dass auf die Kündigung des Geschäftsführers einer GmbH, der kein Mehrheitsgesellschafter ist, die in § 622 Abs. 1 und 2 BGB geregelten Kündigungsfristen entsprechend anzuwenden sind. Dies gilt auch dann, wenn er Geschäftsführer der Komplementärin einer GmbH & Co. KG ist und der Anstellungsvertrag mit der Kommanditgesellschaft geschlossen wurde. Anders entscheidet in solchen Fällen jedoch das Bundesarbeitsgericht. Danach ist § 622 BGB – seinem Wortlaut entsprechend – nur auf die Kündigung von Arbeitsverhältnisses anzuwenden.
4. Kein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften zu Werbezwecken zum Betrieb,
BAG, Urt. v. 28.01.2025 – 1 AZR 33/24
Eine Gewerkschaft verlangte von einem Arbeitgeber die Herausgabe sämtlicher aktueller und zukünftiger dienstlicher E-Mail-Adressen der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, zumindest aber die Einrichtung einer eigenen E-Mail-Adresse, der alle Arbeitnehmer des Betriebs zugeordnet werden, und rein vorsorglich den Zugang und die Berechtigung zu der betriebsinternen E-Mail-Adressliste „alle Arbeitnehmer“. Dies sollte zu Werbezwecken der Gewerkschaft erfolgen. Das Bundesarbeitsgericht verneinte einen solchen Anspruch der Gewerkschaft. Ein solcher Anspruch stehen bereits datenschutzrechtliche Bedenken entgegen. Auch sei eine Herausgabe der Daten nicht erforderlich. Arbeitnehmer, die sich für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft interessieren, können entsprechende Informationen am Schwarzen Brett erhalten. Auf diese Weise können sie frei entscheiden, ob sie entsprechende Werbeartikel lesen wollen oder nicht.
Ein Arbeitgeber kann auch nicht rechtlich verpflichtet werden, sich die notwendigen Einwilligungen von Arbeitnehmern zu beschaffen, damit die Gewerkschaft deren E-Mail-Adresse zu Werbezwecken nutzen kann. Hiergegen spricht bereits, dass ein Arbeitgeber lediglich verpflichtet ist, Werbung durch Gewerkschaften zu dulden und nicht verpflichtet ist, diese aktiv zu ermöglichen. Eine Gewerkschaft darf daher auch das Postverteilersystem des Arbeitgebers nicht eigenmächtig nutzen.
Die Gewerkschaften werden auch nicht durch die Verweigerung der begehrten Rechte in ihrer Werbetätigkeit behindert. Es bleibt immer noch die Möglichkeit, die Arbeitnehmer vor Ort im Betrieb nach ihren betrieblichen E-Mail-Adressen zu fragen und so ihre Einwilligung in die Übermittlung gewerkschaftlicher Werbung einzuholen. Auf diese Weise wird verhindert, dass Arbeitnehmer gegen ihren Willen Gewerkschaftswerbung lesen müssen.
§ 2 Verkehrsrecht / Versicherungsrecht
1. Mietwagenkosten für Fahrzeuge mit abgelaufenem TÜV,
BGH, Urt. v. 03.12.2024 – VI ZR 117/24
Ein Anspruch auf Ersatz von Mietwagenkosten kann nicht allein wegen eines überschrittenen Vorführtermins zur Haupt- und Abgasuntersuchung bei dem unfallbeschädigten Pkw verneint werden. Die Nutzung eines verkehrssicheren Pkw nach § 29 Abs. 7 S. 1 StVZO ungültig gewordener Prüfplakette ist nur dann rechtswidrig, wenn eine Behörde den Betrieb des Fahrzeugs untersagt oder beschränkt hat.
2. Zur richterlichen Überzeugungsbildung für den Nachweis eines unfallursächlichen Geschwindigkeitsverstoßes bei einem Unfall mit Personenschaden,
OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.12.2024 – 3 U 36/23
Die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit hat sich bereits dann unfallursächlich ausgewirkt, wenn es bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufs und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre.
3. Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit – Fahrverbot,
AG Landstuhl, Urt. v. 09.02.2024 – 3 OWi 4211 Js 11910/23
Wer die zulässige Höchstgeschwindigkeit vorsätzlich erheblich überschreitet, kann sich, um einem Fahrverbot zu entgehen, nicht auf den drohenden Verlust seiner Arbeitsstelle berufen.
4. E-Scooter: Entziehung der Fahrerlaubnis,
OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2025 – III-1 ORs 70/24
Elektrokleinstfahrzeuge mit elektronischem Antrieb, einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h und bestimmten, in § 1 eKFV genannten zusätzlichen Merkmalen (E-Scooter), sind gemäß der Verordnung über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr (eKFV) als Kraftfahrzeuge einzustufen. Der Mindestwert für die unwiderlegliche Annahme von absoluter Fahruntüchtigkeit liegt für Führer von Elektrokleinstfahrzeugen in diesem Sinne bei einer Blutalkoholkonzentration von 1%o. Die Benutzung eines sog. E-Scooters durch einen alkoholbedingt fahruntüchtigen Fahrer widerlegt für sich genommen nicht die Ungeeignetheit im Sinne des § 69 StGB.
5. Straßenkleber: Straßenblockaden – Strafbarkeit wegen Nötigung,
OLG Karlsruhe, Urt. v. 04.02.2025 – 2 ORs 350 SRs 613/24
Bei Straßenblockaden ist der Tatbestand der Nötigung vollendet, sobald durch das erzwungene Anhalten von Kraftfahrzeugen nachfolgende Autofahrer in ihrer Fortbewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Danach eintretende Umstände – hier: Bildung einer Rettungsgasse – sind nur noch für die Beurteilung der Verwerflichkeit bzw. die Bestimmung des Schuldumfangs maßgeblich. Dabei können unterbliebene Bemühungen des Opfers den Täter nur entlasten, soweit ein Handeln des Opfers mindestens zumutbar war (hier verneint für die Nutzung einer Rettungsgasse durch Kraftfahrzeugführer). Kleben sich Blockierer mit den Händen an der Fahrbahn fest, schaffen sie ein nicht ohne Weiteres zu beseitigendes Hindernis und handeln deshalb gewaltsam im Sinn des § 240 Abs. 1 StGB.
6. Verkehrssicherungspflicht beim Gehweg,
LG Lübeck, Urt. v. 06.09.2024 – 10 O 240/23
Im vorliegenden Fall ging es darum, dass ein Fußgänger auf einem Gehweg über einen herausragenden Stein fiel und sich dabei verletzte. Das Landgericht Lübeck verneinte Schadensersatzansprüche. Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht des Trägers der Straßenbaulast wurde verneint. Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise grundsätzlich nur diejenigen Gefahren auszuräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag. Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnisses anpassen. Die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles.
§ 3 Notariat
1. Uneingeschränkte Grundbuchfähigkeit des Vereins ohne Rechtspersönlichkeit,
OLG Frankfurt a. M., Beschl. V. 10.10.2024 – 20 W 186/24
Der Verein ohne Rechtspersönlichkeit, dessen Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, ist mit dem Inkrafttreten des MoPeG uneingeschränkt grundbuchfähig.
2. Nachweis der Erbfolge bei notariellem gemeinschaftlichen Testament mit Pflichtteilsstrafklausel,
OLG Frankfurt a. M., Beschl. V. 12.09.2024 – 20 W 212/23
Gegenüber dem Grundbuchamt kann im Fall eines notariellen gemeinschaftlichen Testaments mit Pflichtteilstrafklausel, sofern kein Erbschein vorgelegt wird, die Nichtgeltendmachung des Pflichtteils nach dem ersten Erbfall nur durch von einem Notar aufgenommene eidesstattliche Versicherung nachgewiesen werden.
3. Keine Nichtigkeit der Abberufung des GmbH-Geschäftsführers durch unzuständiges Organ,
BGH, Urt. v. 16.07.2024 – II ZR 71/23
Gesellschafterbeschlüsse einer GmbH, die gegen die in der Satzung festgelegte, nicht auf zwingenden gesetzlichen Vorschriften beruhende Kompetenzverteilung verstoßen, sind lediglich anfechtbar. Die Abberufung eines Geschäftsführers durch die nach der Satzung dafür nicht zuständige Gesellschafterversammlung ist keine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Niehaus
Rechtsanwalt und Notar
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Verkehrsrecht